Mit Vollgas auf die digitale Überholspur

Der deutsche Mittelstand strotzt vor Innovationskraft und nimmt mit eigenen Lösungen eine internationale Vorreiterrolle ein.

von Doris Albiez

Auch wenn vor allem Großkonzerne als Vorreiter in puncto Digitalisierung gelten – der deutsche Mittelstand mit seinen zahlreichen innovativen Produkten und Geschäftsmodellen ist längst auf der Überholspur. Als Motor Deutschlands genießt er zu Recht weltweit ein hohes Ansehen. Manch heimischer Firmenlenker, aber auch die internationale Konkurrenz kann sich ein Beispiel an ihm nehmen, um nicht den digitalen Anschluss zu verpassen.

Was wurde nicht schon alles über Digitalisierung gesagt und geschrieben – vor allem darüber, dass Deutschland nach und nach den digitalen Anschluss verliere und drauf und dran sei, im globalen Wettbewerb ins Hintertreffen zu geraten. All diesen Berichten ist eines gemein: Sie schauen vornehmlich auf das, was nicht funktioniert, statt sich vielmehr auf eine differenzierte Betrachtung zu konzentrieren. Trotz aller sicher existierenden Hindernisse und Verzögerungen – die Behauptung, deutsche Unternehmen stünden allesamt vor der Digitalisierung wie der Hase vor der Schlange, ist verkürzt und so nicht haltbar.

Es ist also Zeit, sich die Firmen und ihre Geschäftsmodelle genauer anzusehen. Zwar mögen digitale Dienste für die Massen von amerikanischen Konzernen wie Google, Amazon oder Facebook beherrscht werden, bei der Digitalisierung der Industrie sind deutsche Unternehmen jedoch Meister. EOS aus dem oberbayerischen Krailling beispielsweise ist führend bei 3-D-Druckern. Schunk aus Lauffen am Neckar, Spezialist für Greifzeuge und Spanntechnik, rüstet Roboter weltweit mit digital gesteuerten Fingern aus, sodass sie Werkstücke exakt bewegen können. TeamViewer mit Sitz im schwäbischen Göppingen, Experte für die Fernwartung von Computern und Smartphones, ist inzwischen auf über 1,8 Milliarden Geräten installiert. Die Märkte und Geschäftsmodelle dieser Unternehmen sind höchst verschieden, aber eins haben sie alle gemeinsam: Sie spielen mit ihren digitalen Lösungen auf internationaler Bühne ganz vorne mit. Hidden Champions – also unbekannte Weltmarktführer – werden solche erfolgreichen Mittelständler genannt.

Erstmals setzen technische Visionen wie das autonome Fahren oder die flächendeckend vernetzte Industrie 4.0 ein schnelles Internet voraus.

Die Spur ist frei für den Mittelstand

Die meist inhabergeführten und nicht dem Shareholder-Value verpflichteten Firmen sind geradezu ein Synonym für Innovation und Unternehmergeist. Ihre besondere unternehmerische Handschrift verleiht ihnen Handlungsstärke und Kontinuität. Viele von ihnen sind – obwohl in Nischen etabliert – längst international aufgestellt. Der Mittelstand muss sich also, was Innovationskraft und Wachstum betrifft, gegenüber den großen Konzernen keineswegs verstecken. Die Beratungsgesellschaft Munich Strategy, die jährlich in Kooperation mit der Wirtschaftswoche die innovativsten mittelständischen Unternehmen Deutschlands kürt, bescheinigt ihnen größere Innovationssprünge sowie höhere Umsatzzuwächse und Gewinne, als sie selbst Dax-Konzerne vorweisen können. Die Top 100 im Ranking für 2018 kommen über eine Spanne von fünf Jahren, die als Berechnungsgrundlage für die Studie herangezogen wurden, auf ein Erlöswachstum von 11,5 Prozent sowie eine Gewinnquote von 14,2 Prozent. Die 30 wichtigsten börsennotierten Firmen dagegen haben beim Fünfjahresumsatz lediglich ein Plus von 6,1 Prozent und beim Ertrag von 9,3 Prozent erreicht.

Ein Mittelständler, der – neben EOS, Schunk und TeamViewer – das Thema Digitalisierung lebt und mit seiner Geschäftsidee zu den Großen in der Branche gehört, ist die Volke Entwicklungsring SE. Das Unternehmen erstellt Fahrzeugkonzepte von der ersten Idee bis zur Serienreife. Karosserie, Antrieb, Fahrwerk und Elektrik eines neuen Modells können zwar schon länger am Computer entworfen und simuliert werden. Volke hat dies aber auf die Spitze getrieben: In einer „begehbaren“, virtuellen Umgebung mit einem dreidimensionalen Abbild des jeweiligen Autos können Prototypen in digitaler Teamarbeit und standortübergreifend absolut realistisch, proportionsgetreu und in Echtzeit entwickelt und das Design von neuen Modellen in jedem einzelnen Schritt beurteilt und verfeinert werden. Volkswagen, einer der Kunden von Volke, reduziert so spürbar Entwicklungszeit und -kosten, da die händische Arbeit und das Produzieren aufwendiger physischer Testmodelle auf ein Minimum beschränkt werden. Erstes Ergebnis dieser durchgängigen Virtualisierung ist der ID Buggy Concept von VW: Dabei handelt es sich um eine dach- und türlose Neuinterpretation der Buggys aus den Sechzigerjahren, die im Gegensatz zu den historischen Vorbildern ohne Benzin fährt und auf dem Genfer Autosalon 2019 ihr Debut feierte.

Konzerne können von den Kleineren lernen

Ganz anders sieht es oftmals bei börsennotierten und damit in der Regel ausschließlich ihren Shareholdern verpflichteten Unternehmen aus – nehmen wir als Beispiel den klassischen Einzelhandel oder traditionelle Banken. Sie drohen zu den eigentlichen Verlierern der Branche zu werden oder sind es sogar bereits. Online-Banken machen den Traditionshäusern massiv Konkurrenz, und immer mehr Kunden bestellen lieber im Netz, als sich auf den Weg in eine der Einzelhandelsketten zu machen.

Die Start-up-Mentalität, die man sowohl in den Accelerator-Büros in Berlin als auch bei Mittelständlern in der Provinz findet, fehlt diesen Konzernen allzu oft. Während Mittelständler Vorteile wie kürzere Entscheidungswege und einen engeren Kundenkontakt haben, um Innovationen zu schaffen, verlieren sich viele Großunternehmen in der Erreichung ihrer finanziellen Ziele und dem nächsten Quartalsbericht. Eine Digitalisierung, die ihren Namen verdient, geht bei diesem Fokus unter und scheitert oftmals an veralteter Software und sogenannten Spaghetti-Systemen, die nicht so einfach auf neue Lösungen mi­griert werden können. Unvergessen ist der erste und krachend gescheiterte Versuch zweier bis dahin erfolgsverwöhnter Elektronikketten, einen eigenen Web-Shop einzurichten.

Die meist inhabergeführten und nicht dem Shareholder-Value verpflichteten Firmen des Mittelstandes sind geradezu ein Synonym für Innovation und Unternehmergeist.

Mehr Förderung und weniger Bürokratie ist gefragt

Den großen Konzernen fehlt es manchmal an Mut, über den Tellerrand der Shareholder-Erwartungen zu blicken. Aber auch Start-ups und der Mittelstand brauchen trotz all ihrer Erfolge noch deutlich mehr Unterstützung seitens der Politik. Nur so können sie ihr volles Potenzial ausschöpfen. Unterstützung heißt mehr finanzielle Förderung, weniger Bürokratie und die richtige Infrastruktur, um am digitalen Wandel allumfassend teilhaben zu können.

Es geht bereits los beim altbekannten Problem der schlechten Infrastruktur. Wenn die Bundesministerin für Bildung und Forschung findet, dass man 5G nicht an jeder Milchkanne braucht, ist das schlicht falsch. Erstmals setzen technische Visionen wie das autonome Fahren oder die flächendeckend vernetzte Industrie 4.0 ein schnelles Internet voraus. Auf der anderen Seite sitzt der deutsche Mittelstand eben nicht nur in den Ballungsräumen, sondern vor allem in der Provinz. Auf dem Land kann Mobilfunktechnologie fehlende DSL-Anschlüsse ersetzen. Der zweite Punkt: Es müssen noch mehr Investitionsanreize für Start-ups und mittelständische Unternehmen geschaffen werden. Dazu gehört ein innovatives Finanzierungsumfeld, das über klassische Anlageinvestitionen hinausgeht, Wagniskapital für Gründer mobilisiert und auch Investitionen in immaterielle Vermögensgegenstände ermöglicht. Die Bürokratie bei der Beantragung solcher Hilfen muss abgebaut werden. Zu diskutieren ist darüber hinaus ein vereinfachtes Steuermodell gerade in den Anfangsjahren von Neugründungen. Da geht es auch um die Frage, wie es sein kann, dass Internetgiganten wie Google, Facebook und Co. nur einen Bruchteil der Steuern zahlen, die ein „normales“ Unternehmen an den Staat abführen muss.

Kernaussagen

  • Der Mittelstand ist häufig innovativer Vorreiter digitaler Entwicklungen.
  • Die Politik sollte Digitalisierungsbestrebungen in der Wirtschaft besser fördern. Hierzu gehört natürlich auch die digitale Infrastruktur. Ein Abbau von Bürokratie kann kreativen und digitalen Geschäftsmodellen helfen.
  • Gerade den großen, börsennotierten Unternehmen fehlt es oft an Mut und an einer gewissen Start-up-Mentalität mit kurzen Entscheidungswegen und engem Kundenkontakt, um Innovationen voranzutreiben.
  • Digitalisierung wird die Welt neu ordnen – in Länder, die neue Technologien nutzen und damit Geschäfte machen, und solche, die tatsächlich den Anschluss verlieren.


Vielfach wird die Einführung von Innovationen durch ein Übermaß an Bürokratie ausgebremst. Auf der einen Seite verhindern Regulierungen zweifellos, dass Monopolstellungen einzelner Unternehmen andere Marktteilnehmer blockieren. Auf der anderen Seite sind es gerade die zu starren Regeln und vielen Auflagen, die eine schnelle Entwicklung von jungen Firmen erschweren. Wer beispielsweise ein Unternehmen gründet, kann das in Estland digital von überall aus erledigen. Mit einer guten Viertelstunde hält Estland den offiziellen Weltrekord für die schnellste Gründung – ein Wert, von dem Jungunternehmer in Deutschland nur träumen können. Ein anderes Beispiel ist das am 1. Januar 2019 in Kraft getretene neue Verpackungsgesetz. Das Gesetz, das den Umweltschutz großschreibt, sieht unter anderem eine Registrierungspflicht vor. Hersteller und Händler müssen nachweisen, dass sie sich an dualen Systemen wie dem Grünen Punkt beteiligen. Zudem besteht die Pflicht zu einem Reporting, in dem einmal jährlich angegeben werden muss, welche Verpackungsmaterialien in welcher Menge in den Markt gebracht wurden.

Die ökologische Notwendigkeit dieser Regelung steht außer Frage, gerade für Start-ups im Bereich E-Commerce bedeutet das neue Gesetz aber eine zusätzliche administrative Arbeit. Wer seine Waren europaweit anbietet, muss zudem aktuell in jedem einzelnen EU-Land eine Anmeldung für die Verpackungsordnung einreichen. Sinnvoll wäre eine einheitliche Lösung, um den Verwaltungsaufwand so gering wie möglich zu halten.

Abseits alter Wege liegt die Zukunft

Die Politik ist also gefragt, einen Ausgleich zu finden: zwischen dem berechtigten Schutz vor Monopolen und dem Abbau von Bürokratie, zwischen einer kritischen Technik-Folgen-Abschätzung und der Schaffung einer Innovationskultur. Gelingt dies, wird Deutschland den Sprung von einer erfolgreichen Industrienation in eine erfolgreiche Digitalnation schaffen. Die Digitalisierung wird dabei die Welt neu ordnen: in Länder, die die neuen Technologien nutzen und damit Geschäfte machen, und solche, die tatsächlich den Anschluss verlieren. Wenn wir uns auf unsere Stärken besinnen und die Digitalisierung als Chance begreifen, werden wir gegen Amerikaner und Chinesen nicht nur bestehen, sondern eine internationale Vorreiterrolle übernehmen können. //


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